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  • AutorenbildCharlotte Kerner

Equilibrio revisited

Aktualisiert: 18. Okt. 2022

Vom einem Frieden und Unfrieden in Stein gehauen




Zwischen zwei Buchten an der Ostküste Mallorcas streckt sich seit 1995 die südlichste und erste Stele des großen Equilibrio-Projekts in den Himmel. Sechs Meter hoch ist der aus Marès-Blöcken geschichtete steinerne Totempfahl, der archaische Kraft und auch die zeitlose Schönheit der Insel verkörpert. Doch die Idee, aus der das Werk Equilibrio hervorging, war auch zeitgebunden und politisch und ist heute wieder hochaktuell.


In fünf europäischen Städten ließ der Bildhauer Rolf Schaffner, der als im Jahr 1927 geborener Deutscher noch in den zweiten Weltkrieg und als junger Mann in die Gefangenschaft ziehen musste, Schwestern-Monumente errichten. Die mittlere Säule steht in Köln, die westliche im irischen Cork; im Norden beherbergt Trondheim ein Equilibrio, in Russland ist es die Stadt Wolgograd, ehemals Stalingrad. Einige stehen auf alten Kriegsbunkern, immer wurden sie aus regionalem Material gebaut, die mallorquinische aus dem inseltypischen gelben Sandstein.

Vierzehn Jahre brauchte dieses groß gedachte Werk für seine Vollendung, doch zwei Jahre zuvor verstarb der Künstler und Wahlmallorquiner. Seine Wegbegleiterin Nora Braun ruhte jedoch nicht, bis der letzte Stein im Jahr 2009 in Irland gesetzt war. Eine Info-Tafel auf der Erhebung zwischen den Calas Santanyi und Llombard erklärt und zeigt Vorbeikommenden, was mit normalen Sinnen nicht fassbar ist: Zwischen den fünf Stelen gezogene Verbindungslinien, imaginäre „Friedensmeridiane“, formen ein Kreuz, halten Europa zusammen. Eine Struktur, die nur vom Himmel aus oder in der Fantasie zu sehen ist.

Als Mahnung und Auftrag verstand Schaffner seine letzte große Arbeit: Nie wieder Krieg! Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989 war dieser in Stein gehauene Gedanke kein frommer Wunsch mehr.


Ich bin oft an diesem besonderen Ort gewesen, vor dem die Küste steil abfällt und das Felsentor Es Pontàs die Meerwellen bricht. Immer wenn ich länger in unserem Dorfhaus in Pollenca lebe und schreibe, zieht es mich dorthin. Aber Ende September bewegte mich der Besuch auf besondere Weise. Zuvor war mir nie aufgefallen, dass der längste, der mittlere Meridian, der von Cork über Köln nach Wolgograd reicht, mitten durch die große Ukraine führt. (Wer wusste schon etwas von diesem Land, bevor junge Europäer:innen auf dem Maidan erschossen wurden, weil sie Freiheit forderten. Und wie schnell waren nach 2014 dieser Aufruhr und auch die Krim-Annexion durch Russland wieder vergessen.)

Wie ein brutaler Schnitt kam mir nun vor, was Frieden symbolisieren sollte. Ich sah eine tiefe, schmerzende Wunde mitten in Europa. Weil dort seit sieben Monaten ein Krieg tobt.



Im Sommer 2016 war das unvorstellbar gewesen, als mehr als ein Dutzend Schüler:innen und Studierende aus Deutschland, Russland und Mallorca in Santanyi zusammen kamen, um auf der Insel den europäischen Gedanken zu feiern. Alle bewegte der Besuch an der südlichen Equilibrio-Stele, als Saxophonklänge das Friedenszeichen umtönten. Als Gast durfte ich auf diesem zweiten Jugendtreffen sprechen, und meine Rede endete optimistisch: „Wenn die heute hier Versammelten ihren Kindern und Enkeln einmal von einem Treffen erzählen werden, dass wegen eines steinernen Totempfahl mit Meerblick stattgefunden hat, so geschieht das hoffentlich in einem Europa, in dem rund um das Mittelmeer wieder ein Gleichgewicht eingekehrt ist, in dem mehr Gerechtigkeit herrscht und ein Frieden besteht, der weiter reicht als der Horizont um die Insel Mallorca und weiter als unser derzeitiges Vorstellungsvermögen.“


Equilibrio reloaded – ein schöner Gedanke, der heute zerplatzt ist wie Seifenblasen. Denn es herrscht weiter Un-Frieden rund ums Mittelmeer, in dem immer mehr Zukunftssuchende ertrinken, und ein neuer Krieg entzweit Europa.

Trotzdem: Als ich am Mittwoch, dem 21. September, vor der Stele stand, geschichtet aus wuchtigen Sandsteinblöcken und golden schimmernd in der Sonne, war sie so schön und stolz wie immer. Nur trotziger kam sie mir vor und noch widerständiger als ihr Erbauer, der am Ende seines Lebens gewarnt hatte: „Mein Projekt müsste eigentlich Desequilibrio (Ungleichgewicht) heißen, das weltweit zunimmt. Für unser eigenes Gleichgewicht können wir etwas tun. Der Willkür von Potentaten sind wir aber scheinbar schutzlos ausgeliefert.“


Equilibrio revisited: Dieses Mal kehrte ich von meinem Besuch aufgewühlt nach Hause zurück. Und leider hatte mich mein Gefühl nicht getrogen. Denn die Nachrichten meldeten, dass Russlands Herrscher Putin just an diesem Tag eine Teilmobilmachung ausgerufen hatte und der Ukraine und letztlich ganz Europa mit dem Einsatz von Atomwaffen drohte.

An diesem Abend erinnerte ich mich daran, dass ein Totempfahl von Toten und Lebenden erzählt. Dass er beschützen und zum Träumen ermutigen soll. Und die erste Stele des großen Equilibrio-Projekts, die sich seit mehr als einem Viertel Jahrhundert zwischen zwei wunderschönen Buchten an der Ostküste Mallorcas hoch in den Himmel reckt, verkörpert genau das: Den tröstlichen Traum von einem europäischen Frieden, so fest wie in Stein gehauen.

Gleichgültig, wie lange der Weg noch ist…



Für Mallorca-Besucher:innen:

Die südliche Säule des Equilibrio-Projekts, die am Wanderweg R11 liegt, ist frei zugänglich. Wer mit dem Auto unterwegs ist, muss von Santanyi Richtung Cala Figuera fahren und am Kreisel (gleich nach dem Friedhof) rechts abbiegen. Der weitere Weg ist ausgeschildert, auf schwarz-weiße Hinweistafeln achten.

Zu dem Gesamtwerk des Künstler Rolf Schaffner siehe auch mein Mallorca-Buch auf den Seiten 27ff und Seite 151ff.



Charlotte Kerner

 

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