top of page
  • AutorenbildCharlotte Kerner

Werden am Ende des Anthropozän nur noch eiserne Bäume in Museen stehen?

Aktualisiert: 25. Jan. 2023



Meine Enkelin Pauline und ich in der Ausstellung „Inventing Nature“/ Foto: privat, 2021

The Future begins now

oder

Der Tod eines Denkers und „Das terrestrische Manifest“, der Kampf gegen die Klimakatastrophe und ein Stern-Titel


Diese Todesnachricht war für mich keine der üblichen Aus-den-Augen-aus-dem-Sinn-Zeitungsmeldungen. Als ich las, dass der französische Philosoph und Soziologe Bruno Latour am 9. Oktober 2022 mit 75 Jahren gestorben ist, war ich – ich gestehe es – bewegt und empfand so etwas wie intellektuelle Dankbarkeit.


Noch im Sommer 2021 war der Denker mit dem Kyoto-Preis ausgezeichnet worden, der auch Nobelpreis der Sozialwissenschaften genannt wird. In der Begründung hieß es: Latour habe „den Gegensatz von Natur und Gesellschaft überwunden, indem er Mensch, Natur und Technik als Akteure in einem hybriden Netzwerk aus Technowissenschaften und sozialen Strukturen beschrieben habe. Sein terrestrisches Denken gebe wesentliche Impulse für das Zeitalter des Anthropozän. Genau deshalb wurde ich vor längerer Zeit, als ich für meinen Roman "Jane reloaded" recherchierte, auf ihn aufmerksam: Erst in Form von Zitaten und Fußnoten in anderen Büchern, dann immer mehr durch die Lektüre seiner Werke selbst.


Vielleicht war ich von der Nachricht auch so angefasst, weil es noch nicht so lange her gewesen war, dass ich Professor Latour gegenüber gesessen und über zwei Stunden gebannt zugehört hatte… wenn auch nur als Fernsehzuschauerin. Denn der französisch-deutsche Sender ARTE hat ein großes, von ihm im vergangenen Jahr angestoßenes Projekt verwirklicht: Im Gespräch mit einem Journalisten von Le Monde erklärt der Philosoph seine wichtigsten Themen und Theorien einem breitem Publikum. Ein halbes Jahrhundert Denkarbeit kondensiert in elf Sitzungen, die jeweils eine Viertelstunde dauern - was für ein großartiges Geschenk. Einmal mehr war ich begeistert, besonders von seinen Erklärungen über „Gaia: Die neue Erde“ in der dritten Sitzung.


Überrascht hatte mich nur, wie schmal und wie viel älter Latour auf dem Bildschirm wirkte, im Vergleich zu früheren Fotos. Er muss sich bewusst gewesen sein, dass ihm aufgrund eines Krebsleidens, nicht mehr viel Zeit blieb. Wohl auch deshalb suchte er dieses Format. Denn eines hat er nie gewollt: Im Elfenbeinturm sitzend, nur Theorien zu entwickeln und kluge Büchern zuschreiben. Er wollte retten, was noch zu retten ist, im Zeitalter der „Klimakatastrophe“, das verharmlosende Wort „Klimawandel“ passt schon lange nicht mehr zu dem Zustand unserer Erde. Aber um „retten“ zu können, musste zuerst das Denken verändert werden.


Deshalb verlangte er von den „Erdlingen“, uns Terrestrischen, sich nicht länger als die Krone der Schöpfung zu sehen und ins Weltall abzuheben (Anmerkung: wie die abschreckenden Macho-Überflieger Elon Musk und Jeff Bezos!), sondern auf den Boden zurückzukommen: Von no-where zu now-here! Um in unseren „critical zones“, der dünnen bewohnbaren Hülle des Planeten, zum Wohl des Ganzen zu handeln, um am Ende - vielleicht- überleben zu können. Allem, was hier kreucht und fleucht, und auch einzelnen Öko-Systemen wollte Latour eine gleichberechtigte Stimme geben. Damit sie zählen und gehört werden „im Parlament der Dinge“, das er sogar auf der Theaterbühne inszenierte. In Teilen der Philosophenzunft erntete er deshalb auch Häme; aber Künstler:innen verschiedenster Sparten hat er inspiriert, etwa den Regisseur Milo Rau, der in seinem taz-Nachruf auf diesen Zertrümmerer „aller modernen, oft auch linken Denkverbote“, die fünf Lektionen auflistet, die Latour ihn gelehrt hat. „Seien wir radikal“, ist eine davon. Denn die Zeit drängt.


Wenn ich Latours Interviews oder Bücher las, kam mir öfters das berühmte Karl-Marx-Zitat in den Sinn: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“ Deshalb schrieb der Ökonom 1848 „Das kommunistische Manifest“. Und 170 Jahre später, 2018 erschien „Das terrestrische Manifest“ von Latour. Dieser Gleichklang fiel sicher nicht nur mir auf. Zwar erfuhr ich später, dass der deutsche Verlag eingegriffen hatte. Deren Version - so der Autor selbst - mache sein Buch grandioser, als es gemeint sei. Der Originaltitel hieß bescheidener Où atterrir?, also Wo landen? oder auch Wo sich erden? Trotzdem, der deutsche Titel ist grandios passend. Jedenfalls haben mich beide „Manifeste“ tief beeindruckt und meinen Kopf durchlüftet: Marx studierte ich zum ersten Mal als zwanzigjährige Volkswirtschaftsstudentin; als ich Latour intensiver las, war ich eine Autorin im siebten Lebensjahrzehnt. Es ist nie zu spät, dazu zu lernen.


Auch wenn der Intellektuelle in vielen Nachrufen rund um den Globus gewürdigt wurde, bin ich mir sicher, dass seine Hellsichtigkeit und Bedeutung für die Zukunft unseres Planeten, in Theorie und Praxis, wohl erst in Jahrzehnten, gar Jahrhunderten noch klarer werden wird - wie weiland Karls Marx´ Analysen für das Leben im heutigen Kapitalozän.


Die sehenswerten ARTE-Gespräche mit Bruno Latour enden mit einer fünfminütigen Botschaft an seinen einjährigen Enkel. Wo er die junge Generation in vierzig Jahren sehe und was er dem Familienmitglied raten würde, hat ihn der Moderator zuvor gefragt. Der Philosoph antwortet illusionslos: Zunächst müsse Lilo die kommenden zwanzig Jahre überstehen, in denen es schlimmer werde. Weil frühere Generationen, aber vor allem seine eigene, versagt hätten. Die Nachfolgenden müssten sich gut rüsten, „therapeutische Mittel“ suchen und finden, um Angst und Verzweiflung angesichts der Klimakatastrophe durchzustehen, bis es in vierzig Jahren möglicherweise wieder aufwärts gehe. Aber er sei natürlich kein Hellseher…


Oma Charlotte & Enkelin Pauline: Zwei Generationen auf Fridays for Future-Demos, Lübeck + Freiburg 2021 (Photos: privat)

Sofort kam mir der Satz der ersten Nobelpreisträgerin Marie Curie in den Sinn, den ich meinem Reader „Die nächste GENeration“ vorangestellt hatte: „Man muss nichts im Leben fürchten, man muss nur alles verstehen.“ Verstehen heißt zum Beispiel Latours Bücher lesen. Oder den Klimaforscher:innen zuhören. Sich rüsten heißt auch, dass die Friday-for-Future- Demonstrierenden mit den Scientists for Future eine Allianz bilden. Und dass ich mich wahlweise in den Demoblock Oldies oder Omas for Future einreihe, und meine 19-jährige Enkelin an ihrem Studienort mitmarschiert, denn: The future begins now


Als dieser Text schon in Arbeit war, fiel mein Blick bei einem Einkauf auf die Titelseite der Zeitschrift STERN vom 13. Oktober 2022. Ich sah eine kahle Greta Thunberg, mit starrem Zombie-Blick. Wie die besessene Carrie aus dem gleichnamigen Stephen-King-Horror-Film sah sie aus, nur dass ihre recht Gesichtshälfte nicht mit Blut überströmt, sondern in schwarzes Rohöl getaucht war. Darunter ein Zitat: „Es überrascht mich selbst, dass ich noch nicht durchgedreht bin.“ Das Wort „durchgedreht“ war in fetten Großbuchstaben heraus gehoben. Die ins Auge springende Botschaft des Covers lautete: GRETA DURCHGEDREHT.

Egal wie differenziert das Gespräch im Innenteil daher kam, einmal mehr wurde diese junge Frau als „nicht ganz normal“ denunziert. Und weil sie, wie kaum eine andere, dem Kampf gegen die Klimakatstrophe auch ihr Gesicht gegeben, ist der STERN-Titel nicht nur geschmacklos und ein Griff voll daneben, sondern auch ein Angriff auf all die „durchgedrehten“ Klima-Aktivist:innen.

Wie konnten sie das wagen, „how dare you“! Als kurzer Kommentar an die Redaktion des STERN reichen diese drei Worte aus, die Greta Thunberg auf dem UN-Klimagipfel 2019 den Politiker:innen entgegen schleuderte, traurig und wütend zugleich: „Wir stehen am Anfang eines Massenaussterbens. Und alles, worüber Sie reden können, sind Geld und Märchen vom ewigen Wirtschaftswachstum. Wie können Sie es wagen! Seit mehr als 30 Jahren ist die Wissenschaft kristallklar. Wie können Sie es wagen, weiterhin wegzuschauen und hierher zu kommen und zu sagen, dass Sie genug tun, wenn die notwendige Politik und die notwendigen Lösungen noch nirgendwo in Sicht sind?“

Und genau wegen solcher Auftritte war und bleibt die junge Schwedin ein starkes „therapeutisches Mittel“ (um die Latour´sche Formulierung anzuwenden), das Heranwachsende (be)stärkt sich angesichts der Klimakatastrophe einzumischen.

Gemeinsam und je früher und je radikaler, desto besser. Weil es nötiger ist, denn je.


Kinderplakate – auf einer Demo in Lübeck Foto: privat, 2020

Charlotte Kerner

 

Hat Sie/Dich der Post interessiert? Ich freue mich über einen Kommentar!









121 Ansichten2 Kommentare

Aktuelle Beiträge

Alle ansehen
bottom of page